Musikalische Lesung
Rezitation: Franziska Mencz, Cello: Miran Zrimsek, Klavier: Michael Rettig, Konzeption: Michael Rettig
Ein jüdisches Kind stirbt 1902 im galizischen Brody. Oder doch nicht? Stirbt als unglücklich Liebende im Wien des Jahres 1919. Oder doch nicht? Stirbt 1938 als Verratene während der Zeit der Schauprozesse in Moskau. Als hochgeehrte Schriftstellerin in der DDR, als von allen Vergessene in einem Altersheim nach der Wende. Oder doch nicht?
Der Tod ist immer nur eine von mehreren Möglichkeiten. Immer wieder entrinnt die Heldin durch eine ungeahnte Wendung der Geschichte dem Tod und tritt in ihrem nächsten Lebensabschnitt aufs Neue dem 20. Jahrhundert gegenüber. „Schicksal“ erweist sich als ein unfassbares Zusammenspiel von Kultur- und Zeitgeschichte, von familiären und persönlichen Verstrickungen und Lebenslügen. Der Zufall aber sitzt bei alldem „in seiner eisernen Stube und rechnet“.
„Aller Tage Abend“ nimmt die Zuhörer mit auf eine Reise durch die vielen Leben, die in einem Leben enthalten sein können – und ist nicht zuletzt ein Panorama des Scheiterns an der Gewalt des zwanzigsten Jahrhunderts, die wie ein Moloch über den Einzelnen hinwegfegt.
Wer sind wir, wenn uns die Stunde schlägt? Wer wird um uns trauern?
Pausen effektvoll zu setzen, ist eine Kunst – und genau das glückte Franziska Mencz bei der musikalischen Lesung „Aller Tage Abend“ Im Sommerrefektorium des Klosters Wienhausen. Die Schauspielerin las – ja, man kann schon fast sagen, inszenierte – ausgewählte Passagen aus Jenny Erpenbecks Familiensaga.
Kultur- und Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, familiäre und persönliche Verstrickungen, das alles verwebt Erpenbeck hier zu einem kunstvollen Schickals-Teppich – und Mencz zollt dem lebendigen Erzählstil der ostdeutschen Autorin an diesem Abend meisterhaft Tribut.
„Am Ende eines Tages, an dem gestorben wurde, ist längst noch nicht aller Tage Abend.“ Sätze wie diese bringt Mencz mit der nötigen Dramatik – und doch ohne jedes Pathos. Die Schauspielerin überzeugt mit wandlungsfähiger Stimme und ausdrucksvoller Mimik. „Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün…“ singt sie leise, fast unhörbar, als sich gegen Ende des Buches die inzwischen 90-jährige Hauptfigur innerlich auf den Tod vorbereitet – und so manchem Zuhörer läuft an dieser Stelle ein kleiner Schauer über den Rücken.
Sehr stimmig auch die Begleitung durch Miran Zrimsek am Cello sowie Michael Rettig am Klavier. Die Musik ist eigens für die Lesung komponiert; die musikalischen Intermezzi ergänzen die rezitierten Textpassagen in nahezu perfekter Weise. Sehnsuchtsvoll, fast klagend mutet Zrimseks intensives Cello-Spiel an immer wieder ergänzt von Rettigs fingerfertigen Ausflügen ins Drama.
Insgesamt eine rundum gelungene musikalische Lesung, die der sprachlichen Wucht von Erpenbecks Roman gerecht wird.
Cellesche Zeitung, Christina Matthies, 30.04.2018